SCHATTEN WANDEL
17.05 -
25.07.2024
Eröffnung: 17.05.2024 | 18 - 21 Uhr
04.07.24 | 19 Uhr
Klangperformance von Nils Nova
Finissage: 12.07.2024 | 18 - 21 Uhr
(Ausstellung verlängert bis 25.07.)
Öffnungszeiten: Fr. 14 - 19 Uhr, Sa. 14 -17 Uhr
oder nach Vereinbarung
Noch bevor wir die KALI Gallery betreten, begegnen wir ihrem verzerrten Bild. Nachbilder, Erinnerung, Schatten. Der Künstler Nils Nova (*1968) erweitert den realen Raum durch einen imaginären Doppelgänger. Ein Trickster, der die Ordnung durcheinanderbringt, und die Welt in einen ambivalenten Ort verwandelt. Die Ausstellung ‹Schatten Wandel› zeigt raumspezifische Installationen und neue Acrylmalereien, die oftmals sowohl abstrakt als auch gegenständlich sind. Dabei offenbart Nova auch seine politische Seite, ohne den moralisierenden Zeigefinger zu erheben. So bleiben seine Bilder offen für verschiedene Interpretationen.
Die raumgreifenden Fototapeten von Nova nutzen den Realismus der Fotografie, um in der Tradition des Trompe-l'œil Illusionen zu schaffen, die jedoch durch die Verzerrung der Perspektive sofort wieder zerstört werden. Die Selbstdekonstruktion offenbart die Konstruktion der Wirklichkeit. Wie kommt unser inneres Bild des Raumes zustande? Was geschieht, wenn wir uns als Leib im Raum bewegen? Gegenstände können aus unendlich vielen Perspektiven betrachtet werden, doch die jeweils eingenommene Perspektive verdeckt alle anderen – eine kontinuierliche Abschattung.
Die Interferenz zwischen dem Realen und dem Imaginären erzeugt auch eine Irritation des Zeitbewusstseins. Das Vergangene kollidiert mit dem Gegenwärtigen. Die Zeit ist keine gerade Linie, auf der das Jetzt einförmig als ausdehnungsloser Punkt fortschreitet. Sie ist ein Zeithof mit Urimpressionen im Zentrum, von dem zurückhaltende Erinnerungen und vorgreifende Erwartungen ausgehen. Ekstasen, die ein originäres Zeitfeld im stetigen Wandel bilden – ein turbulenter Zeitfluss.
Von weitem schon zieht uns ein schwarzes Quadrat in seinen Sog. Doch das grossformatige Bild auf dem Foto entpuppt sich als kleinformatige Leinwand an der Tapete. Der verkleinerte Raum des Fotos lässt ‹Dunkler Fluss› grösser erscheinen. Von nahem erkennen wir unter der schwarzen Farbschicht eine flussförmige Struktur. Malewitschs ‹Schwarzes Quadrat› steht als Nullpunkt der Abstraktion mit einem Fuss in der Moderne, mit dem anderen im untergründigen Strom der Tradition. Die Emanzipation von der Repräsentation entspricht dem spirituellen Streben nach Transzendenz. Das Ziel, die Kunst vom Gewicht der Dinge zu befreien und eine Empfindung der Gegenstandslosigkeit zu evozieren, resoniert mit der Mystik des Schweigens. Die Ikone der Kunst hing wie eine religiöse Ikone im Herrgottswinkel.
Hinter dem weissen Schleier erkennen wir eine Pyramide mit abgehobener Spitze. Das Dreieck ist die simpelste Figur der Ebene und das okkulte Symbol von Gottes Auge der Vorsehung. Wie durch ein Fenster zur Wirklichkeit sehen wir in ‹Pyramiden› die göttliche Ordnung, die universelle Hierarchie (altgr. hieros, heilige, arché, Herrschaft) der Macht: Viele unten, Wenige oben, Einer über allem. Die Pyramide ist sowohl auf dem Wappen von El Salvador, dem Geburtsort von Nils Nova, zu finden als auch auf der Rückseite des Ein-Dollar-Scheins. «NOVUS ORDO SECLORUM» (dt. Neue Ordnung der Zeitalter) wird auf Letzterem verkündet, Anlass vieler Verschwörungstheorien, welche vorgeben den Vorhang zu den Hinterzimmern der Macht zu lüften, während sie ihn noch opaker, trüber und dunkler machen.
Die Schwelle zum Innenraum wird verdoppelt durch eine zugleich sichtbare und unsichtbare Schwelle. ‹Nase› zeigt horizontal und vertikal symmetrisch gespiegelte grüne und blaue Flächen deutlichem Pinselstrich. Die obere Hälfte ist grösser, so dass ein Horizont, entsteht, und eine Orientierung möglich wird. Das abstrakte Bild besitzt eine gegenständliche Referenz: Die Seeenge Nas im Vierwaldstättersee, die im Zweiten Weltkrieg als «Seesperre Nas» den Eingang zum Reduit bildete. Links wäre also die Ober Nas und rechts die Unter Nas, wo sich das Bürgenstock Resort befindet, zu sehen.
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Der Bezug zur Aussenwelt ist auch auf ‹Runter & Hoch eines Systems› erst auf den zweiten Blick ersichtlich. Der schwarze Berg, hinter dem die Sonne untergegangen ist (oder wieder aufgehen wird), so dass er von einer leuchtenden Aura umgeben ist und der Himmel rot aufflammt, ist das Haupt des fast religiös verehrten Mao Zedong. Eine Anspielung auf den Kalten Krieg, in dem die Systemalternativen miteinander konkurrierten.
Doch der Traum ist aus. Es gibt keine Alternative mehr. Was bleibt, ist die neoliberale Leistungsgesellschaft, in der das unternehmerische Selbst permanenter Optimierung unterworfen ist. Ständig sind wir dem Stress ausgesetzt, etwas erleben zu müssen. ‹Aktion› und ‹Reaktion› sind wieder für Nova typischere Farbfeldmalereien, glühende Gaswolken im All nach Explosionen von Supernovae, innere Nachbilder bei geschlossenen Augen oder starke Gefühle. Doch das intensive Leben hat auch seine Schattenseiten. Am Ende des Tages tauschen wir wie in ‹Verwandlung› das orange leuchtende Ausgangskleid mit dem dunkelblauen Mantel der Nacht, wenden uns von der Müdigkeitsgesellschaft ab, und träumen wie in ‹Traum› womöglich von einem anderen Leben.
Das letzte Bild schliesslich ist das Schlüsselbild von ‹Schatten Wandel›. ‹Projektionsfläche› wirkt wie eine innere Landschaft wie Dürers ‹Traumgesicht›. Dunkle aufgewühlte Wolken, die an Goyas Radierungen, aber auch an John Martins apokalyptische Gemälde erinnern, zeugen von einer pessimistischen, aber nicht hoffnungslosen Stimmung. Eine blaue Sphäre, die Boschs ‹Garten der Lüste› entsprungen sein könnte, hält dem Sturm, der vom Paradiese her weht, stand. Wie in Turners ‹Snow Storm – Steam-Boat off a Harbour's Mouth› steuert die Seele souverän durch die vom Weltenwind aufgewühlte See, und bewahrt unerschütterlich den Traum nach Freiheit und unendlichen Weiten.
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Der Kreis schliesst sich. Nils Nova gelingt es, mit seinen aktuellen Werken in ‹Schatten Wandel› an ältere Arbeiten anzuknüpfen. Mit somnambuler Sicherheit gelingt es ihm, mit minimalsten Informationen und abstrakten Formen auf konkrete Gegenstände und Stimmungen des Zeitgeistes zu verweisen. Kunst als Schule der Ambiguitätstoleranz. - Michel Rebosura